MONTAG, 13.10 UHR

Auf der Fahrt nach Düsternbrook sagte Santos nach längerem Schweigen: »Wir lassen ab sofort die Finger davon. Wir verrennen uns doch nur. Klaus hat es auf den Punkt gebracht: Wir haben erstens keine Beweise und zweitens keine Chance, selbst wenn wir Beweise für Manipulation hätten. Mein Vater sagt immer, verschwende nicht deine Energie an Dinge, die du nicht erreichen oder gewinnen kannst. Er hat recht.« »Na und? Ich will die Wahrheit wissen.« »Ich auch, aber nicht um jeden Preis. Dieser Preis ist mir definitiv zu hoch, ich häng nämlich am Leben, und ich habe das dumpfe Gefühl, dass es nicht nur um unseren Job, sondern um mehr geht.« »Angst?« »Noch nicht.«

»Gut. Ist dir aufgefallen, wie Günter geschwitzt hat? Der hat panische Angst. Warum schiebt er mir einen Zettel zu, auf dem steht, dass er uns an einem neutralen Ort treffen will? Er hat das heimlich gemacht, als würde er beobachtet. Und warum erfindet Klaus so eine abenteuerliche Geschichte? Warum ...«

»Hör auf! Schluss jetzt!«, herrschte Santos ihn an und warf ihm einen glühenden Blick zu. Selbst abgebrühte Gauner bekamen weiche Knie und schwitzige Hände, wenn Santos sie mit diesem furchteinflößenden Blick ansah, den sie in ihrer Karate- und Nahkampfausbildung gelernt hatte. »Ich habe keine Lust mehr, einem Phantom hinterherzujagen. Wir konzentrieren uns ab sofort nur noch auf unsere Ermittlungen und nichts weiter. Ich bin raus aus der Nummer ...« »Aber ...«

»Kein Aber! Mag sein, dass man der Öffentlichkeit und den Medien falsche Informationen zukommen ließ, es kann aber auch sein, dass alles korrekt ist und der Fehler irgendwo anders liegt. Wir wissen es nicht und werden es vermutlich nie erfahren. Aber das ist nicht unser Job. Unser Job ist es, einen perversen Mörder zu fangen. Für DNA sind wir nicht zuständig. Jetzt will ich kein Wort mehr über diese Sache hören, sonst kannst du dir einen anderen Partner suchen.«

»Nur noch eins, dann bin ich still. Ich will auch gar keine Antwort von dir, sondern nur, dass du darüber nachdenkst. Okay?« »Wenn's sein muss.«

»Warum ist Volker so nervös geworden, als wir ihm davon erzählt haben? Warum war Rüter in der KTU und bei Jürgens? Das sind nur Fragen, nicht mehr und nicht weniger.«

Santos sah aus dem Fenster, hinter ihrer Stirn arbeitete es. Gedanken, die sie Henning nicht mitteilen wollte und durfte. Gedanken, die sie vergeblich zu verbannen versuchte. Sie wusste, dass Henning recht hatte, und sie wusste auch, dass es schon gefährlich sein konnte, nur darüber nachzudenken. Sie brachte sich ein spanisches Gedicht in Erinnerung, das ihr Vater ihr beigebracht hatte, als sie noch ganz klein gewesen war. Es nützte nichts. Dann ein spanisches Volkslied, das ihre Großmutter oft gesungen hatte, wenn sie in Spanien zu Besuch waren. Doch die Gedanken blieben. Gedanken, Zweifel und eine Menge Frustration. Sie hätte so gerne zu Henning gesagt: »Komm, wir gehen die Sache an.« Aber sie traute sich nicht, denn sie wusste, Henning konnte wie ein Pitbull sein, der nicht mehr loslässt, wenn er sich einmal in etwas verbissen hat.

Noch bevor sie in Bruhns' Straße einbogen, sahen sie die Wagen der Reporter. Heerscharen von ihnen hatten sich auf den Weg gemacht, um vielleicht das Bild zu schießen, das eine trauernde Victoria Bruhns zeigte. Gramgebeugt, das Gesicht tränenüberströmt, die Augen gerötet. Henning stellte sich die weiteren Schlagzeilen vor, den Tage oder gar Wochen andauernden Medienhype, Serien, die über Bruhns' Leben und Werk berichten würden. Vielleicht kämen nach und nach Details über sein Leben ans Tageslicht, die keiner wissen wollte, aber Journalisten waren dazu da, die Fassade herunterzureißen, und sie würden es auch diesmal tun, denn Bruhns' schrilles und schillerndes Leben bot eine Fülle Stoff, doch zu seinen Lebzeiten hatte man es in den letzten drei, vier Jahren nicht gewagt, seine düsteren Seiten zu zeigen, dazu hatte er schon zu viele Prozesse geführt und gewonnen. Sie langten vor dem Haus an, Henning stoppte, zog den Schlüssel ab, wartete ein paar Sekunden und legte eine Hand auf Lisas Arm, ohne die Reporter, die mit Mikrofonen und Kameras bewaffnet vor dem Grundstück ausharrten, aus den Augen zu lassen. »Es ist okay, ich will damit nichts mehr zu tun haben.« »Lass uns reingehen«, war alles, was Santos antwortete. »Wenn uns diese Pressefuzzis überhaupt durchlassen.«

»Sie werden uns durchlassen, dafür sorge ich schon.« Er stieg aus und bahnte sich einen Weg durch die Menge, indem er die Ellbogen benutzte und einige der Journalisten brüsk anfuhr: »Macht schon Platz, ihr Aasgeier, es gibt hier nichts für euch zu holen. Verzieht euch, aber ein bisschen dalli, sonst lass ich das Gelände hier räumen!« »Sie können uns nicht verbieten, hier zu sein«, sagte ein junger Journalist, den Henning nie zuvor gesehen hatte, mit herausforderndem Blick.

Henning ging zu ihm und zischte: »Ich kann es verbieten, verlass dich drauf. Das ist eine Wohngegend, und ihr blockiert mit euren Karren die Straße. Ich kann schon mal den Abschleppdienst rufen, die kommen mit fünf oder sechs Wagen gleichzeitig, und ihr glaubt gar nicht, wie schnell hier alles geräumt ist. Na, was ist?« »Das ist ein freies Land, Arschloch«, entgegnete der Journalist, der sich erste Lorbeeren mit einer großen Story verdienen wollte, dem aber jegliches diplomatische Geschick abging.

»Bitte? Wie war das eben? Willst du eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung? Kannst du ganz schnell haben, es sei denn, du bewegst deinen Arsch weg von hier.« »Ist ja gut, ist ja gut, war nicht so gemeint. Ich entschuldige mich.«

»Angenommen. Und trotzdem Abmarsch. Aus dem Weg!«

Vor dem großen Tor standen vier uniformierte Beamte, Henning hielt seinen Ausweis hoch und fragte: »Wie lange geht das schon so?«

»Wir sind seit sechs hier. Die sind wirklich wie die Geier.«

»Ist Frau Bruhns zu Hause?« »Ja.«

Henning klingelte und stellte sich so, dass sein Gesicht deutlich auf dem Monitor im Haus zu erkennen war, das Tor öffnete sich, ohne dass Victoria Bruhns sich gemeldet hätte.

Sie gingen zum Haus, die Hausherrin erwartete sie in der dunklen Eingangshalle, sie war blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen.

»Hallo«, begrüßte sie die Beamten mit einem Lächeln, das wie eingefroren schien, und schloss die Tür hinter ihnen. Sie begaben sich in den Wohnbereich. »Hallo. Wie geht's Ihnen heute?« Sie zog die Stirn in Falten und zuckte mit den Achseln. »Haben Sie nicht geschlafen?«, fragte Santos mitfühlend.

»Daran war überhaupt nicht zu denken. Seit gestern Abend belagern die mich, als wäre ich Britney Spears oder Paris Hilton. Wenn sie mich doch nur zufriedenlassen würden.«

»Können Sie nicht wegfahren? Irgendwohin, wo die Sie nicht finden?«

Victoria Bruhns lachte unfroh auf und schüttelte den Kopf. »Die würden mich überall finden, die sind wie Bluthunde. Sie müssten doch wissen, wie Journalisten ticken. Ich möchte nur meine Ruhe haben.« »Was ist mit Ihren Eltern oder Ihrer Schwester?« »Wo denken Sie hin? Jeder von denen da draußen weiß, wo meine Familie wohnt. Bei denen stehen ja auch schon die Paparazzi vor der Tür. Ich hasse dieses Pack.« »Gibt es keine Freundin, bei der Sie mal für eine Weile unterschlüpfen könnten?«

»Seit ich mit Peter zusammen bin, habe ich keine Freundin mehr«, sagte sie bitter. »Er hat mich praktisch gezwungen, alle meine früheren Kontakte aufzugeben, als Liebesbeweis sozusagen. Ich weiß, ich war eine dumme Kuh, aber ich kann das Rad der Zeit nicht zurückdrehen. Na ja, was soll's, irgendwann geht der Rummel schon vorbei. Die kriegen auf keinen Fall Bilder einer trauernden Witwe, denn das bin ich nicht. Aber nehmen Sie doch Platz. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« »Machen Sie sich keine Umstände ...« »Das sind doch keine Umstände. Warten Sie, ich lasse uns Limonade bringen, hergestellt aus Cranberrys, die Peter zweimal im Jahr aus den USA hat einfliegen lassen. Unsere Haushälterin musste dann eine ganz besondere Limonade daraus herstellen. Dabei hat Peter das nie getrunken, er war ja auch nur selten hier.«

Victoria Bruhns ging hinaus, Henning und Santos hörten Stimmen, wenig später kehrte sie zurück. »Die Limonade wird uns gleich gebracht«, sagte sie und nahm wie tags zuvor auf dem Sessel Platz. Sie wirkte sehr gefasst, auch wenn dies, wie die Beamten ahnten, nur Fassade war.

»Warum trauern Sie nicht?«, fragte Santos direkt. »Keine Ahnung, ich kann es einfach nicht. Vielleicht, weil ich schon seit fast zwei Jahren allein in diesem Haus lebe, Peter war ja nur hin und wieder zu Besuch hier. Gestern, nachdem Sie gegangen sind, habe ich eine ganze Weile Rotz und Wasser geheult, aber am Abend war es vorbei. Auch das war keine echte Trauer, es war etwas anderes. Sie haben mich mit einer Nachricht konfrontiert, auf die ich nicht vorbereitet war, das ist wohl die einzig plausible Erklärung.«

»Wahrscheinlich. Wir müssen Ihnen leider noch ein paar Fragen stellen, es dauert auch nicht lange. Wo ist denn Ihr Töchterchen?«

»Mittagsschlaf. Sie hat die Nacht fast durchgeschlafen und schläft jetzt auch. Ich wünschte, ich könnte das. Aber bitte, fragen Sie.«

Die Tür ging auf, und eine in Schwarz gekleidete Frau um die fünfzig trat ein. Sie stellte ein Tablett mit einer Karaffe und drei Gläsern auf den Tisch und schenkte wortlos ein, ohne die Beamten eines Blickes zu würdigen. »Danke«, sagte Victoria Bruhns, worauf die Frau immer noch schweigend den Raum verließ. »Ist Ihnen noch jemand eingefallen, der Ihrem Mann den Tod hätte wünschen können?«

»Nein, da muss ich passen. Ich habe mir die ganze Nacht den Kopf zermartert, wer hinter diesem Mord stecken könnte, aber außer den sieben Namen, die ich Ihnen gestern schon aufgeschrieben habe, fällt mir keiner ein, dem ich so etwas auch zutrauen würde.« »Die Personen, die Sie uns genannt haben, werden überprüft. Können Sie sich an ungewöhnliche Vorkommnisse in den letzten Tagen und Wochen erinnern? Hat Ihr Mann sich am Freitag, als Ihre Tochter Geburtstag hatte, anders als sonst verhalten? Gab es Post oder Anrufe, die ...« »Sie haben mir diese Fragen doch gestern schon gestellt, oder? Wie gesagt, es gab nichts Ungewöhnliches, zumindest habe ich es nicht bemerkt. Mein Mann war wie immer, ich muss aber zugeben, dass ich nicht sonderlich auf ihn geachtet habe. Außerdem war er nur eine gute Stunde bei uns, dann war er schon wieder verschwunden ...« »Ins Studio, wenn ich mich recht entsinne?« »Ja, aber fragen Sie doch seinen Toningenieur, ob er wirklich dort gewesen ist. Ich schreibe Ihnen seinen Namen und die Studioadresse auf.« »Haben Sie schon mit ihm gesprochen?« »Nein, ich habe mich auch gewundert, dass er sich noch nicht bei mir gemeldet hat, aber ich kenne ihn auch nur vom Sehen aus der Anfangszeit, als mein Mann mich noch des Öfteren mit ins Studio genommen hat. Herr Weidrich ist ein stiller und verschlossener Typ. Ich hatte im Übrigen den Eindruck, dass er trinkt. Aber das ist nur meine Einschätzung.«

Sie überreichte Santos den Zettel, die ihn einsteckte und sagte: »Sie erwähnten gestern, dass Sie sich von Ihrem Mann trennen wollten und ein Druckmittel gegen ihn in der Hand hatten, wollten uns aber nicht sagen, worum es sich handelt. Wir möchten das wissen, auch wenn es Ihnen unangenehm ist.« »Warum? Ist das so wichtig?«

»Alles kann wichtig sein. Sie können uns vertrauen. Was wir hier besprechen, bleibt unter uns, es sei denn, es ist für die weiteren Ermittlungen relevant.« Victoria Bruhns faltete die Hände und presste die Lippen aufeinander, bis sie schließlich sagte: »Also gut. Peter hat vor einem Jahr ein Talent entdeckt, wie er sagte, ein Mädchen, das er ganz groß rausbringen wollte. Sie sollte eine neue Mariah Carey oder Whitney Houston werden. Er hatte mir schon mehrfach von ihr vorgeschwärmt, bevor er sie dann eines Tages mit hierherbrachte. Es war schon ziemlich spät, so gegen neunzehn Uhr, und er war eine ganze Weile mit ihr unten im Studio, während ich im Wohnzimmer war ... Sie müssen wissen, im Untergeschoss hat er ein kleines Studio, das er vor allem zum Komponieren benutzt hat. Es ist komplett ausgestattet, er hat hier auch schon einige Demo-Tapes gemacht und mit etlichen seiner Künstler geprobt. Ich kann Ihnen das Studio nachher gerne zeigen ... Es war einen Tag vor Paulines Geburt, das werde ich nie vergessen, als dieses Mädchen die Treppe hochkam. Sie sah aus, als hätte sie geweint, und ich bin ziemlich sicher, dass sie Schmerzen hatte, auch wenn sie das zu unterdrücken schien. Peter kam ihr nach und blaffte mich an, was ich so glotzen würde, ich solle gefälligst ins Wohnzimmer verschwinden. Ich bin aber geblieben und fragte ihn, was mit dem Mädchen sei, bekam jedoch zunächst keine Antwort, und als ich nachhakte, gab er mir deutlich zu verstehen, dass mich das nichts anginge und ich endlich verschwinden solle, wobei er leicht die Hand hob. Nele ginge es gut, sie sei nur ein wenig erschöpft von den Proben, und er würde sie gleich nach Hause fahren. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich noch im Wohnbereich sein würde, weil ich in den Tagen vor Paulines Geburt normalerweise früh zu Bett gegangen bin.«

»Wie, haben Sie gesagt, heißt das Mädchen?«, fragte Santos.

»Nele.« »Nachname?«

»Keine Ahnung. Wollen Sie gar nicht wissen, wie alt sie war?«

»Wie alt?«, fragte Santos mit zu Schlitzen verengten Augen. Die Wut, die sie schon den ganzen Morgen über in sich hatte, wurde zu heiligem Zorn. »Elf, höchstens zwölf. Nele war noch ein Kind, als Peter sich an ihr vergangen hat. Es war das grausamste Erlebnis, das ich je hatte, das können Sie mir glauben.« »Woher wissen Sie, dass Ihr Mann sich an dieser Nele vergangen hat?«

»Ich habe es gespürt. Ich bin eine Frau und ... Das Mädchen war total verängstigt, ihr Blick war traurig und unendlich einsam. Es kann natürlich sein, dass ich mich getäuscht habe, aber die Situation war in meinen Augen eindeutig.«

»Hat Nele etwas gesagt?«

»Nein, keinen Ton. Ich hatte allerdings auch keine Gelegenheit, sie anzusprechen, weil Peter darauf gedrängt hat, sie nach Hause zu fahren. Im Hinausgehen drehte sie sich noch einmal um und sah mich traurig und hilfesuchend an.«

»Können Sie das Mädchen beschreiben?« »Etwa eins vierzig groß, blond, große blaue Augen und eine noch sehr mädchenhafte Figur, da war noch kein Busen, auch die Rundungen fehlten.«

Santos ließ sich nicht anmerken, was sie dachte, denn sie erinnerte sich an einen Fall, den sie zusammen mit einigen Kollegen bis vor zwei Monaten bearbeitet hatte. »Wenn Ihr Mann dieses Mädchen vergewaltigt hat, warum haben Sie das nicht der Polizei gemeldet?« »Haben Sie nicht zugehört? Ich kannte das Mädchen nicht, ich wusste nur ihren Vornamen, ich wusste in etwa, wie alt sie war, mehr aber auch nicht. Was hätte die Polizei denn tun können? Ganz ehrlich, gegen einen Peter Bruhns unternimmt die Polizei doch nichts. Außerdem hat er mir, nachdem er etwa zwei Stunden später zurückgekommen war, gedroht, mich umzubringen, sollte ich jemals diesen kleinen Vorfall erwähnen. Kleiner Vorfall!« Sie schwieg eine Weile. »Und dann sagte er: >Nele hat doch kein besonderes Talents und grinste. Noch in derselben Nacht setzten bei mir die Wehen ein, und am Morgen wurde Pauline geboren. Peter war natürlich mit in der Klinik, denn die ganze Welt sollte sehen, was für ein liebevoller und fürsorglicher Ehemann und Vater er war. Sobald wir zu Hause waren, verschwand er, manchmal tagelang, ohne dass ich ein Wort von ihm gehört habe.«

Victoria Bruhns machte eine Pause und trank einen Schluck von ihrem Cranberry-Saft.

»Aber wenn Sie ihn nicht damit unter Druck setzen konnten, womit dann?« »Sie haben noch gar nicht getrunken.« Henning und Santos tranken und stellten die Gläser kommentarlos wieder auf den Tisch. »Also, womit hatten Sie Ihren Mann in der Hand?« »Eine Woche nach dem Vorfall war ein Foto von Nele in der Zeitung. Sie war tot, die Polizei ging davon aus, dass sie sich das Leben genommen hat oder Opfer eines Unfalls geworden war. Außerdem wurde gefragt, ob irgendjemand Angaben zur Herkunft des Mädchens machen könne. Das war für mich ein Schock. Ich machte mehrere Kopien von dem Artikel und versteckte sie überall im Haus ...«

»Aber spätestens dann hätten Sie doch zu uns kommen können ...«

»Frau Santos, ich bitte Sie, was hätte ich denn sagen sollen? Hier, ich kenne das Mädchen, sie heißt Nele und war vor einer Woche bei uns im Haus? Mein Mann hat sich an ihr vergangen! Wem hätten Sie wohl mehr geglaubt, mir oder dem großen Produzenten?«

Santos senkte für einen Moment den Blick, denn sie wusste, dass Victoria Bruhns recht hatte, keiner hätte ihr Glauben geschenkt. Und keiner hätte Ermittlungen gegen Bruhns eingeleitet. Er kannte Gott und die Welt, und zu diesen Göttern zählten auch Staatsanwälte und Richter. Es wäre nie zu einer Ermittlung, geschweige denn zu einem Verfahren oder gar einer Verurteilung gekommen. Sie erinnerte sich nur zu genau an diesen Fall, wie das namenlose Mädchen von Gleisbauarbeitern in einem Gebüsch neben einer Reihe von Güterwagons gefunden worden war, im Arm einen Teddybär, der zarte Körper von unzähligen Misshandlungsspuren übersät, Hämatome, Brandmarken von ausgedrückten Zigaretten, Knochenbrüche, die meisten davon alt, aber schlecht verheilt, lediglich das Gesicht war beinahe unversehrt gewesen. Ein zartes, unschuldiges Gesicht, lange blonde Haare, blaue Augen, leicht hervorstehende Wangenknochen, sanft geschwungene, nicht zu volle Lippen. Ein bildhübsches Mädchen, das im Laufe der Jahre noch hübscher geworden wäre. Aber es gab jemanden, der nicht zugelassen hatte, dass sie älter als elf oder zwölf wurde. Vor ihrem Tod hatte sie unsägliche Leiden ertragen müssen. Ihr Unterleib gab Zeugnis von unzähligen Vergewaltigungen, die das Mädchen nur überstanden hatte, weil man es unter Drogen gesetzt hatte, wie man im Blut nachweisen konnte. Und wie es schien, gehörte Bruhns zu jenen, die Neles Körper und Seele geschändet hatten. Für Lisa Santos war es beinahe unerträglich gewesen, sich die Fotos anzusehen, Trauer und unbändige Wut hatte sie empfunden. Doch in den folgenden Ermittlungen galt es, einen kühlen Kopf zu bewahren. Eine zwölfköpfige Soko war gebildet worden, doch bis zum heutigen Tag gab es kein Ergebnis. Nun saßen sie bei Victoria Bruhns und erhielten erste verwertbare Informationen, vor allem hatte das Mädchen jetzt einen Namen.

Die Leiche hatte bei ihrem Auffinden laut rechtsmedizinischem Gutachten etwa vier bis fünf Tage im Freien gelegen, da es vergleichsweise kühl gewesen war, hatte der Verwesungsprozess noch nicht eingesetzt. Das Mädchen war vergewaltigt und anschließend erwürgt worden. Da es keine Abwehrverletzungen aufwies, ging man davon aus, dass es nicht mehr die Kraft gehabt hatte, sich zu wehren. Die Öffentlichkeit erfuhr nie etwas von den unsäglichen Leiden des Mädchens mit dem schönen Namen Nele.

»Und wie ...«

»Ganz einfach. Als ich ihm sagte, dass ich mich von ihm trennen wolle, drohte er mir, wie ich Ihnen gestern schon erzählt habe. Da drehte ich den Spieß um, obwohl ich Angst vor ihm hatte. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich ein paar Tage nach der Entbindung die Zeitung lesen würde, und er erschrak zutiefst, als ich ihm den ausgeschnittenen Artikel unter die Nase hielt und sagte, ich wüsste, dass dieses Mädchen auch seinetwegen gestorben sei. Es war das einzige Ass, das ich im Ärmel hatte, und es stach. Er stand da wie versteinert, dann drehte er sich schweigend um und ging. Das war vor zehn Tagen. Er hat kein Wort mehr darüber verloren, er wusste, dass er diesmal verloren hatte. Glauben Sie mir, ich hatte panische Angst vor diesem Augenblick. Aber dass er sich so leicht geschlagen geben würde, damit hatte ich nie und nimmer gerechnet.«

»Warum haben Sie ein Jahr lang geschwiegen? Wie konnten Sie so lange noch mit so einem Mann zusammenleben ...«

»Frau Santos, ich habe, einen Tag nachdem ich Nele gesehen habe, selbst entbunden. Seither steht Pauline an erster Stelle, und wie ich schon sagte, ich hatte Angst. Angst, Angst, Angst. Aber dann habe ich sie doch überwunden. Ich weiß, es fällt schwer, das zu glauben, aber dieses Haus war drei Jahre lang mein Gefängnis, aus dem ich nur noch ausbrechen wollte.« »Können wir den Artikel sehen?«

Sie ging zum Bücherregal und zog eine Kopie aus einem Buch.

»Bitte.«

Santos betrachtete das Foto des toten Mädchens, nickte, und Henning sagte: »Also doch. Ich dachte gleich an den Fall unseres unbekannten Mädchens, war mir aber nicht sicher. Vor etwa zwei Monaten mussten wir die Akte schließen, weil wir nicht einen einzigen verwertbaren Hinweis erhalten haben. Das Mädchen wurde von niemandem als vermisst gemeldet. Wir haben uns mit Kollegen aus fast ganz Europa in Verbindung gesetzt, aber auch da null Resonanz. Wir und auch die Rechtsmediziner gehen nach wie vor davon aus, dass das Mädchen aus Osteuropa stammte. Und Sie sind sicher, dass sie hier bei Ihnen im Haus war?«

»Warum sollte ich Sie anlügen? Sie war hier, dieses Gesicht werde ich nie vergessen, glauben Sie mir. Sie war so hübsch, zart und zerbrechlich, ich hätte sie am liebsten in den Arm genommen, um sie zu beschützen. Aber wie hätte ich das tun sollen? Ich war hochschwanger! Ich weiß, das ist keine Entschuldigung, aber zumindest eine Erklärung. Wenn ich sie hätte beschützen können, ich schwöre Ihnen, ich hätte es getan.« Sie wandte den Kopf, Tränen liefen ihr über das Gesicht. Mit stockender Stimme fuhr sie fort: »Mein Mann und vielleicht auch andere haben Fürchterliches mit ihr angestellt. Ich glaube nicht, dass sie sich umgebracht hat oder einem Unfall zum Opfer gefallen ist, ich glaube eher, dass sie umgebracht wurde.« Santos hielt sich bedeckt. »Es gibt weder für das eine noch für das andere Hinweise. Nach dem, was Sie uns erzählt haben, müssen wir eine Hausdurchsuchung durchführen. Es werden viele Beamte im Haus sein und ...« »Ich kenne das aus dem Fernsehen. Machen Sie, was Sie für richtig halten.«

»Unsere Kollegen werden mit einem Durchsuchungsbeschluss kommen, vermutlich morgen schon. Besitzen Sie außer diesem Haus und dem in Schönberg noch weitere Immobilien?«

»Ja, in Hamburg, auf Mallorca, Ibiza, Florida und neuerdings auch in Moskau. Wonach suchen Sie denn?« »Das dürfen wir Ihnen nicht sagen. Wir werden jedoch Anweisung geben, dass so wenig Unordnung wie möglich gemacht wird. Ob wir allerdings die Presse raushalten können, dafür kann ich nicht garantieren. Wenn die spitzkriegen, dass Ihr Haus auf den Kopf gestellt wird, werden sie Fragen stellen, und nicht Herr Henning oder ich werden Rede und Antwort stehen, sondern unser Pressesprecher oder der Staatsanwalt.« »Mich kann nichts mehr erschüttern.« Sie sah auf die Uhr. »Ich will nicht drängeln, aber ich müsste mich um meine Tochter kümmern. Haben Sie noch Fragen?« »Ja, eine noch. Gingen hier öfter Personen ein und aus, die Ihnen unbekannt waren?«

»Nein, außer ein paar Musikern oder alten Bekannten meines Mannes niemand. Das mit dem Mädchen war auch das einzige Mal, dass ...«

»Frau Bruhns, das eine Mal war einmal zu viel. Wenn es denn wirklich das einzige Mal war. So oder so ist dieses Mädchen jetzt tot, und das ist eine Schande.« »Es tut mir in der Seele weh, aber sagen Sie mir, was hätte ich tun sollen? Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich ihn spätestens ab diesem Tag verabscheut habe. Ich habe mich vor ihm geekelt. Wir hatten seitdem auch keinen Intimkontakt mehr, aber auch er wollte es gar nicht. Peter war nicht der Mann, den alle in ihm gesehen haben, schnodderige Schnauze, dumme Sprüche und immer gut drauf, nein, er hatte eine sehr dunkle Seite, die er niemandem zeigte, nur mir hin und wieder, wenn ihm die Hand ausrutschte. Seine zahlreichen Affären waren mir gleich, damit konnte ich leben, aber dass er sich auch an Kindern vergangen hat, das war zu viel.«

»Sie sprechen auf einmal von Kindern? Haben Sie uns noch etwas zu sagen?«

»Nein«, antwortete sie schnell, zu schnell, wie Santos befand. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen.« »Frau Bruhns, helfen Sie uns und den Kindern. Gab es mehr als nur diese Nele?«

»Nein, ich versichere Ihnen, ich habe kein anderes Kind hier gesehen. Aber ich habe den Verdacht, dass es weitere gab. Ich sage mir, wer es mit einem macht, wird es nicht dabei belassen. Ich kann mich natürlich auch täuschen.« »Das kann man nur hoffen. Wir würden uns auch noch gerne mit dem Personal unterhalten. Wie viele Angestellte haben Sie?«

»Ist das wirklich notwendig?« »Ja. Also, wie viele?«

»Sieben, von denen aber nur Frau Hundt, die uns vorhin die Limonade gebracht hat, ständig hier ist. Die anderen sind zwischen ein- und dreimal pro Woche im Haus oder kümmern sich um die Außenanlagen.« »Wohnt Frau Hundt hier?« »Ja.«

»Dann werden wir uns gleich mit ihr unterhalten. Können Sie uns zu ihr bringen?«

»Kommen Sie«, erwiderte Victoria Bruhns, erhob sich zusammen mit den Beamten und ging vor ihnen durch die Eingangshalle auf die andere Seite. Sie wollte bereits eine Tür öffnen, als Santos sagte: »Nachher möchten wir noch einen Blick in das Studio Ihres Mannes werfen.« »Sagen Sie mir einfach Bescheid, dann bring ich Sie runter. Mein Mann hatte mir zwar strikt verboten, das Studio ohne ihn zu betreten, aber das ist ja nun hinfällig.« »Waren Sie seit seinem Tod im Studio?« »Nein, das ist mir nicht mal in den Sinn gekommen, ich war gar nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.«

Sie öffnete die Tür, doch das Zimmer war leer. Victoria Bruhns runzelte die Stirn, ging wortlos zu einem anderen Zimmer, das ebenfalls leer war, und rief schließlich: »Frau Hundt?«

»Ja? Ich bin hier oben im Bad.«

»Die Kommissare möchten sich mit Ihnen unterhalten, wenn Sie bitte runterkommen würden.« Kaum eine Minute später stand sie vor Henning und Santos, eine großgewachsene, sehr schlanke, unnahbar wirkende Frau. In ihrem hageren Gesicht zeigte sich keine Regung, als Santos sagte: »Wir hätten ein paar Fragen an Sie, es dauert auch nicht lange.«

»Bitte.« Frau Hundt wandte sich an ihre Chefin: »Können wir in die Bibliothek gehen?« »Selbstverständlich. Ich bin bei Pauline, falls was ist.« »Was kann ich für Sie tun?«, fragte die Haushälterin kühl und distanziert, als sie in der Bibliothek mit den deckenhohen Bücherwänden standen. Ein burgunderfarbener Teppichboden schluckte jeden Schritt, darauf standen drei Sessel, ein Tisch und ein Stehpult, alles im englischen Stil, doch Frau Hundt machte keine Anstalten, den Beamten einen Platz anzubieten. Ihre Miene war noch immer wie versteinert, sie strahlte eine eisige Kälte aus, die den ganzen Raum erfüllte.

Santos hatte selten einen Menschen erlebt, in dessen Gegenwart sie sich derart unbehaglich fühlte. Kühl erwiderte sie: »Uns ein paar Fragen beantworten. Wie lange arbeiten Sie schon für die Familie Bruhns?« »Ich bin seit fünfundzwanzig Jahren für Herrn Bruhns tätig. Warum interessiert Sie das?«

»Wir sind von Berufs wegen neugierig. Erzählen Sie uns doch, was für ein Mensch er war. Es gibt vermutlich kaum jemanden, der ihn besser kannte als Sie.«

»Das kann ich nicht beurteilen. Herr Bruhns war stets korrekt und hat sich dem Personal gegenüber sehr positiv verhalten.«

»Damit haben Sie meine Frage nicht beantwortet. Wie war er?«

»Freundlich, kulant, großzügig, mir fällt nichts Negatives ein.«

»Wie war denn Ihr ganz persönliches Verhältnis zu ihm?«

»Es war ein reines Arbeitsverhältnis, falls dies eine Anspielung gewesen sein sollte.«

Kalt wie eine Hundeschnauze, dachte Santos, der Name passt zu dir.

»Es war keine Anspielung, und Sie haben auch wieder nicht auf meine Frage geantwortet. Wenn Sie schon so lange in diesem Haus sind, werden Sie doch gewiss so einiges mitbekommen haben. Nun lassen Sie sich um Himmels willen nicht alles aus der Nase ziehen, sondern beantworten Sie meine Fragen, dann sind Sie uns auch rasch wieder los. Also, was für ein Mann war er, wie hat er sich verhalten, wie oft war er überhaupt hier?« »Es tut mir leid, ich verstehe Ihre Frage nicht.« »Oh, dann verstehen Sie vielleicht, dass ich Ihnen hiermit eine Einladung zum Erscheinen im Präsidium gebe. Morgen früh um Punkt neun erwarte ich Sie bei uns, wo wir uns sehr ausführlich und unter verschärften Bedingungen mit Ihnen unterhalten werden. Hier sind meine Karte und die Zimmernummer. Melden Sie sich am Empfang.«

Frau Hundt überlegte, Santos spürte, wie es in dieser Frau arbeitete. »Herr Bruhns war in letzter Zeit nur selten hier, den Grund dafür kenne ich nicht. Aber es hat wohl mit der Gesamtsituation zu tun.« »Könnten Sie vielleicht etwas konkreter werden?« »Fragen Sie doch seine Frau!«

»Das haben wir bereits getan, wir wollen es aber auch von Ihnen hören. Also?«

»In der Ehe hat es gekriselt, mehr weiß ich nicht.« »Frau Hundt, Sie wissen sehr wohl mehr, denn Sie wohnen und arbeiten hier und sind gewiss über alles bestens informiert. Hatte Herr Bruhns Affären?« »Das weiß doch jeder in diesem Land. Es hat aber meiner Loyalität ihm gegenüber keinen Abbruch getan.« »Hat er diese Affären auch mal mit nach Hause gebracht?«

Frau Hundt zögerte einen Moment. »Ein paarmal.« »Woher wissen Sie, dass es Affären waren und keine Sängerinnen oder solche, die es werden wollten?« »Frau Santos, wenn eine junge Dame halbnackt hier ankommt, dann will sie alles, aber nicht singen. Nun, ich bin gewiss nicht die Richterin über Herrn Bruhns.« »Sie kannten auch seine anderen Ehefrauen. Was ist da schiefgelaufen? War er ihnen gegenüber gewalttätig?« »Bisweilen hatte er seine Gefühle nicht unter Kontrolle, das stimmt.«

»Gefühle nennen Sie das, ich nenne das Gewalt.« »Herr Bruhns war kein schlechter Mensch, falls Sie das denken. Er war nur - anders. Ein Künstler eben.« »Oh, das ist natürlich etwas - anderes. Gab es in den letzten Tagen und Wochen irgendwelche ungewöhnlichen Vorkommnisse in diesem Künstlerhaus?« »Nein, nicht, dass ich wüsste.« Sie blickte zu Boden. »Das ist nicht alles, Frau Hundt. Jetzt sagen Sie schon ...« »Er war am Montag hier, Herr und Frau Bruhns hatten wieder einmal einen heftigen Streit, bei dem es zu Handgreiflichkeiten kam.« »Er hat seine Frau geschlagen?« »Ja, aber sie hat ihn wohl provoziert, sonst ...« »Oh, das ist natürlich ein Grund, um zuzuschlagen«, entgegnete Santos gereizt. »Sagen Sie nur ja oder nein. War er jähzornig, unbeherrscht, aggressiv?« »Hin und wieder.«

»Nur seinen Frauen gegenüber oder auch dem Personal?« »Er konnte sehr ausfallend werden, wenn etwas nicht ganz so geschah, wie er es wollte.«

»Na also, warum nicht gleich so. Damit hätten wir doch schon einige negative Eigenschaften. Eine Frage noch: Kennen Sie dieses Mädchen?« Santos hielt den Zeitungsartikel mit dem Bild des Mädchens hoch, das angeblich Nele hieß. Sie faltete ihn so, dass nur das Foto zu erkennen war.

Frau Hundt betrachtete das Bild ausgiebig und schüttelte den Kopf: »Nein, tut mir leid, ich habe das Mädchen nie gesehen. Warum fragen Sie mich das?«

»Sie sind ganz sicher, dieses Mädchen nie hier im Haus gesehen zu haben?«, hakte Santos hartnäckig nach, denn sie spürte, dass Frau Hundt log.

»Und wenn sie hier war?«

»Ich sehe, wir nähern uns allmählich der richtigen Antwort. Sie war also hier, habe ich recht?« »Es kann sein, dass ich sie schon mal gesehen habe. Was ist mit ihr?«

»War dieses Mädchen einmal oder öfter hier? Überlegen Sie gut.«

»Ich habe sie ein-, zweimal gesehen.«

»Mit Herrn Bruhns?«

»Ja.«

»Und den Grund, weshalb sie hier war, kennen Sie den?«

»Nein, es stand mir auch nicht zu, Fragen zu stellen.« »Welchen Eindruck machte das Mädchen auf Sie?« »Ich verstehe Ihre Frage nicht.«

»Wirkte sie verstört, verängstigt? Hatte sie vielleicht Schmerzen, oder hatten Sie den Eindruck, als würde sie Sie um Hilfe bitten?«

»Nein, nichts von alledem. Das Mädchen machte auf mich einen ganz normalen Eindruck. Es tut mir leid, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.«

»Aber Sie wissen schon, dass das Mädchen, das übrigens Nele heißt, tot ist?«

»Nein, tut mir leid, das ist mir nicht bekannt.« »Lesen Sie keine Zeitung?«

»Nein, keine Zeitung, kein Fernsehen. Ich brauche so etwas nicht.«

»Und das, obwohl Ihr Chef jahrelang in den Medien präsent war? Ich glaube Ihnen nicht.« »Ich sage nur die Wahrheit.«

»Halten Sie sich zu unserer Verfügung, es könnte durchaus sein, dass wir noch weitere Fragen haben und Sie aufs Präsidium vorladen. Nur, dass Sie vorbereitet sind. Was werden Sie jetzt überhaupt tun, nachdem Ihr Brötchengeber tot ist?«

»Das müssen Sie schon Frau Bruhns fragen, sie ist ab sofort die Herrin des Hauses.«

»Das werden wir tun, Frau Hundt. Auf Wiedersehen.«

 

Victoria Bruhns hatte ihre Tochter auf dem Arm und schien auf die Beamten zu warten. Pauline sah Henning und Santos an und vergrub ihr Gesicht wie tags zuvor im Busen ihrer Mutter.

»Sie mag wohl keine Polizisten«, konstatierte Santos lächelnd.

»Es gibt nur drei Menschen, vor denen sie keine Scheu hat, das bin ich, dann meine Mutter und meine Schwester. Selbst mein Vater hat keine Chance bei ihr. Keine Ahnung, woher sie das hat, aber es wird sich mit der Zeit schon geben. Schau, Pauline, das sind die zwei Polizisten von gestern. Du brauchst dich nicht zu verstecken, die sind doch ganz nett ... Nein, sie will nicht, kann man nichts machen.«

»Haben Sie kein Kindermädchen?« »Nein. Ich möchte, dass meine Tochter von mir großgezogen wird. Ich bin ihre Mutter, und diese Rolle wird nie jemand anderes übernehmen.«

»Das ist eine gute Einstellung. Wir müssen nun weiter. Vielleicht sehen wir uns morgen bei der Hausdurchsuchung, kommt ganz drauf an, was unser Chef mit uns vorhat. Ach, wir wollten doch noch einen Blick ins Studio werfen. Nur ganz kurz, dann sind wir auch gleich weg.«

Sie gingen ins Untergeschoss, wo Victoria Bruhns eine mit dickem Leder gepolsterte Tür aufschloss und die Beamten an sich vorbeitreten ließ. Sie schaltete das Licht an. »Bitte, Sie befinden sich im Heiligtum meines Mannes.« »Ganz schön bombastisch«, bemerkte Henning anerkennend, als er das Mischpult sah, die Instrumente und Lautsprecher, es gab nicht den geringsten Hall, ein wahrhaft schalldichter Raum.

»Wenn hier unten Musik gemacht wurde, hat man das im restlichen Haus gehört?«, fragte Henning. Victoria Bruhns lachte auf. »Nein, kein Ton hat das Studio verlassen, da konnten die noch so laut aufdrehen. Hier wurden ungefähr zwanzig Zentimeter Dämmmaterial verwendet, an der Decke und den Wänden, das hat mein Mann mir mal gesagt.«

»Und wenn Sie draußen gestanden hätten?«

»Selbst da hörte man kaum was. Aber das ist noch gar nichts gegen das Studio in Altenholz, das ist etwa viermal so groß ... Der blanke Wahnsinn.«

»Dürfte ich Ihnen eine Frage stellen, die sehr privat ist und nichts mit dem Fall zu tun hat?« »Fragen Sie.«

»Wie hoch ist das Vermögen Ihres Mannes?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen, ich hatte nie Einblick in seine Konten, grob geschätzt dürfte es sich im dreistelligen Millionenbereich bewegen. Er hat mal so was angedeutet, als er etwas zu viel getrunken hatte.« »Wir haben genug gesehen«, sagte Henning und gab das Zeichen zum Aufbruch.

Sie verabschiedeten sich von Victoria Bruhns, die die Kommissare bis zur Haustür begleitete, selbst aber im Dunkeln blieb, um von den Paparazzi nicht gesehen zu werden.

»Tschüs und danke für Ihre Hilfe. Bereiten Sie sich schon mal auf morgen vor.«

»Ich bin inzwischen einiges gewohnt. Darf ich noch etwas fragen?« »Bitte.«

»Wann kann die Beerdigung stattfinden?« »Sobald die Leiche freigegeben ist. Noch befindet sich Ihr Mann in der Rechtsmedizin, aber ich nehme an, es wird sich nur noch um ein oder zwei Tage handeln. Sie können auf jeden Fall schon alles in die Wege leiten.« »Danke schön. Ich frage mich, wie ich an diesem Abschaum da vorbeikommen soll.«

»Da können wir Ihnen leider auch nicht weiterhelfen.

Augen zu und durch, würde ich sagen«, erwiderte Santos lächelnd.

Im Auto sagte Santos: »Wenn das nur ansatzweise stimmt, dann war Bruhns ein Verbrecher - und vielleicht sogar in einen Mord verwickelt. Das sind wieder Abgründe!«

»Laut Jürgens war die Kleine etwa zwölf, als sie gestorben ist.«

»Da suchen wir wie die Bekloppten und müssen erfahren, dass sie kurz vor ihrem Tod bei Bruhns gewesen ist. Was für ein Schwein! Aber jetzt haben wir wenigstens einen Anhaltspunkt. Wenn das Mädchen tatsächlich einen Tag vor der Geburt von Bruhns' Tochter bei ihm war, dann könnte es auch sein, dass er ihr Mörder ist. Sie war am fünften März bei Bruhns, ihre Leiche wurde am zehnten entdeckt. Vom Zeitfenster her haut das hin.« »Schon, aber Bruhns ein Mörder? Irgendwie kann ich das nicht glauben.«

»Er war auch seiner Frau gegenüber gewalttätig, vergiss das nicht. Solche Typen sind zu allem fähig. Womöglich liegt hier das Motiv, weshalb Bruhns ins Jenseits befördert wurde.«

»Aber warum erst nach einem Jahr? Die Zeitspanne für Rache scheint mir arg groß.«

»Mag sein. Außerdem kann man Gewalt gegenüber seiner Frau nicht mit der Gewalt und der Vergewaltigung eines Kindes vergleichen. Lass uns noch mal die Akten durchgehen und die Details mit Klaus und Volker besprechen, sofern die beiden wieder ansprechbar sind.«

»Hat die Bruhns falsch gehandelt?«, fragte Henning. »Wie hättest du denn an ihrer Stelle gehandelt? Nicht als Mann, sondern als Frau? So unmittelbar vor der Entbindung? Ich glaube, ich hätte auch meinen Mund gehalten. Schau sie dir an, diese Frau ist nicht fünfundzwanzig, die ist innerlich wie fünfzig. Das war Bruhns' Werk.« »Sie hätte uns doch wenigstens einen anonymen Tipp geben können.«

»Was hätte das gebracht? Die hat schon recht, gegen Bruhns wäre nichts unternommen worden. Am Ende wäre sie die Verliererin gewesen. Bruhns hätte doch sofort gewusst, wer der anonyme Tippgeber ist. Dann hätte es für seine Frau richtig schlecht ausgesehen. Sie musste an sich und das Baby denken.«

»Okay, spinnen wir den Faden weiter. Sie sagt, sie hat am Samstagabend bis gegen ein Uhr mit ihrer Schwester telefoniert. Ihre Schwester ist ihre größte Verbündete. Was, wenn die beiden unter einer Decke stecken und einen Plan ausgeheckt ...«

»Ach nee, lass gut sein, das passt nicht. Was hat der Anrufer gestern gesagt, wir sollen uns auf das Umfeld von Bruhns konzentrieren?«

»Hm. Aber die Bruhns und ihre Schwester gehören zum Umfeld.«

»Sie hat mit dem Mord nichts zu tun«, entgegnete Santos stur.

»Dann nehmen wir uns doch mal diesen Toningenieur vor. Oder hast du einen besseren Vorschlag?« »Nein.«

Sie fuhren nach Altenholz zum Studio und standen vor verschlossener Tür. Ein unauffälliger Bau, dem man von außen keine Beachtung schenken würde. Dabei waren in diesen vier Wänden einige Welthits entstanden, fast allesamt aus der Feder von Bruhns, der damit das große Geld gemacht hatte.

Henning rief Harms an und bat ihn, die Privatadresse und Telefonnummer von Weidrich herauszufinden. Nach nur drei Minuten hatten sie die Information. »Er wohnt gleich um die Ecke«, sagte Henning. »Wenn du mir bitte folgen würdest.«

 

Eisige Naehe
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